Milieu und FaziesEmilia Neumann15.11.15.12.2019

Kunsthalle Willingshausen

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Seltsame Objekte hängen aufgereiht im Raum. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass es offenbar Abgüsse sind, und dass es für alle ein einziges Ausgangsobjekt gab. Ablesbare Formen und Details wie Griffe und Verschlüsse lassen vermuten, dass es ein Surfbrett ist. Die Grundlage dieser unförmigen und offenbar schweren Skulpturen ist also ein Sportgerät, dass es ermöglicht, auf Wellen zu gleiten, sich tragen und treiben zu lassen, auf einem leichten Brett stehend durch geschicktes Steuern fantastische Geschwindigkeiten zu erreichen. Dabei muss der Körper sich einerseits völlig und ganz einlassen, sich gehen lassen, sich aber andererseits auch konzentriert spüren und reagieren auf die Kräfte, denen er sich aussetzt. Das Vergnügen besteht darin, die Balance zu halten, zu „stehen“ und dieses Spiel der Kräfte zu genießen. 

Emilia Neumann hat die Form dieses Surfbretts mit Silikon abgenommen. Das ist nach dem 3D-Scan die heute exakteste Möglichkeit, eine Form 1:1 zu reproduzieren. Allerdings hat sie das nicht getan, um ein neues Surfbrett zu bauen, einen Klon, was möglich wäre, sondern um mit dieser Negativform künstlerisch umzugehen. Sie hat die Silikonform verdreht, verknautsch, gestaucht, etc. und dann diese mögliche-unmögliche Form mit Gips gefüllt. Was für ein Unsinn an Surfbrett!

Zusätzlich hat sie den Gips mit Farbpigmenten vermischt, sodass eine Art gewachsenes Gestein, an manchen Stellen auch eine Marmorstruktur entsteht. Das Ergebnis ist ein seltsam gewordener Brocken, eine Art Findling, der wie in einer Versteinerung ein in früherer Zeit eingeschlossenes Lebewesen enthält. Man könnte „das Tier“ den „gemeinen Surfling“ nennen oder vielleicht „die flundrige Brettmoräne“, deren Vorkommen besonders an der Küsten Marokkos nachgewiesen wurde oder an denen von Florida, bevor die großen Trump-Stürme sie verwüstet und verölt haben. – Nein, nochmal: Was für ein Unsinn!

Emilia Neumann hat sie an Gymnastikbändern – auch ein Sportgerät – hochgelupft, so wie man mit Tauen Schiffe aus dem Wasser und zum Trocknen und Renovieren an Land zieht. Nein, wieder Unsinn! Sie sind aufs Parkett des Museums gezogen, als Objekte für das bewundernde Auge und für künstlerisch-wissenschaftliche Forschung. Die erstere Frage lautet: „Wie toll sieht das denn aus?“, die zweite: „Was ist wie warum so geworden? Und was ist das dann?“. 

„Milieu und Fazies“ hat Emilia Neumann ihre Ausstellung genannt, das Ergebnis ihres dreimonatigen Aufenthalts in Willingshausen, ihrer Arbeit in den zwei Garagen, die ihr eigens für ihre bildhauerische Arbeit zu Verfügung gestellt wurden. 

„Milieu“ und „Fazies“ kennt man vielleicht als Begriffe aus dem Erdkunde- oder Biologieunterricht. Sie bezeichnen zwei wesentliche Zustände eines Gegenstandes: das Gesicht, die Erscheinungsform – Fazies, und die Umgebung – Milieu, in der er vorkommt, die ihn genährt, geformt und lebendig gemacht hat.

Mit ihren Papierarbeiten geht Emilia Neumann um wie eine Alchimistin, die auf der Suche nach den Gesteinen der Weisen ist, oder den Wahrheits-Sagerinnen, die die Zukunft im Jetzt lesen können. Diversen flüssigen Substanzen, deren Zusammensetzung sie nicht preisgibt, mischt sie Farbpigmente unter und lässt sie fließen. In einer Art gezieltem Zufall und aus der Bewegung ihres Körpers heraus entstehen so interessante Blätter, die voller Sichtweisen sind. Sich damit nicht festzulegen, sondern sie als Zustand der Betrachtung zu begreifen, bedeutet ganz konkret, sich nicht mit der Assoziation „Berg“ zufrieden zu geben, sondern das Blatt umzudrehen, den „Berg“ „Tropfen“ werden zu lassen, Mikro- und/oder Makrokosmos entstehen zu lassen, oder einfach nur „Flüssigkeit“ zu sehen, die von der Seite ins Blatt fließt. 

Von beidem aus kann man ein Objekt betrachten und in beide Richtungen Fragen stellen – Fragen nicht nur nach dem Zustand, sondern auch nach dem Prozess des Werdens in Vergangenheit und Zukunft. Das ist Forschung: ein Bezugsfeld von Bedingungen und Möglichkeiten festzustellen und zu vergleichen, um daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten oder als Modell zu entwerfen, um die Welt der Erscheinungen zu verstehen und zu erklären – nicht zuletzt: zu nutzen. 

Text: Bernhard Balkenhol
Bild: Jens Gerber

emilianeumann.com