Kathi Seemann ist gerne unterwegs, um für sie interessante grundsätzliche Fragestellungen zu erforschen. Das macht sie als Fotografin, aber auch als Autorin und Gestalterin. Am Ende steht immer eine Publikation oder Ausstellung, d.h. der Weg in die Öffentlichkeit.
Nachdem sie sich in „sharing figures“, 2017, mit dem Phänomen des Teilens im urbanen und virtuellen Raum auseinandergesetzt hat, lenkt sie den Blick auf die Strukturen des ländlichen Zusammenlebens: den Ort, die Vereinslandschaft, Landstraße, Autobahn- und Internetanbindung, Schulhöfe, Feuerwehr, Kneipen, die Kirchen, etc.
Wo das „Leben auf dem Land“ für die einen Lebensqualität ist, ist es für die anderen zum Problem geworden. Auf der Suche nach einem attraktiven Job, Karriere und dem kosmopolitischen Leben flüchten sich viele junge Leute aus ihren Dörfern in die Städte und Metropolen. Für diejenigen, die in den kleinen Orten bleiben, wohnen und arbeiten, ist der Anschluss an die lokalen Netzwerke und die umliegende Region von existenzieller Bedeutung. Welche zwischenmenschlichen Beziehungen und generationsübergreifenden Bünde, welche sozialen Netzwerke hält ein Ort zusammen? Welcher Bezug besteht zum Ort und welche Verbindung zur nächst größeren Stadt?
Als ich eine Woche vor der Eröffnung mit Kathi Seemann im Saal die Hängung ihrer Arbeiten besprach, lag auf dem Arbeitstisch ein Stapel Fotoalben. Sie enthielten ausschließlich Bilder von Menschen, die in Willingshausen über viele Jahrzehnte und Generationen hinweg gelebt und gearbeitet haben, zurückreichend bis in die Anfänge der Fotografie. Als ich in ihnen blätterte, war ich erstaunt, dass unter den Bildern alle Namen der Abgebildeten vollständig aufgeführt waren: Paul und Paula, Hermine und Heinrich, Rotkäppchen und Wolfgang. Die Fotoalben aus dem Dorfarchiv wirken wie die Chronik einer großen Familie. Egal ob wichtig oder unwichtig, sie alle sind auf den obligatorischen Erinnerungsfotos festgehalten, manchmal auch bei der Arbeit oder einfach nur auf der Straße.
Mein Auge blieb aber ausgerechnet bei den Gesichtern und Personen hängen, die aus dem Rahmen fielen. Da ist ein Grinsen, das nicht zu den anderen, offiziellen Mienen passt, da hängt ungeschickt ein Arm heraus, da spielen gelangweilte Kinderfinger Karussell, da sind schmutzige Schuhe unter der aufgeputzten Tracht. In diesen Momenten bricht sich die zur Schau getragene Fassade und etwas Menschliches, Eigenes und Zufälliges tritt hervor.
Kathi Seemann zeigt im Aufgang zu ihrer Ausstellung „YOUTH“ fünf solcher Fotografien, die sie besonders angeregt haben. Mit diesem Zitat stellt sie sich selbst in den Kontext der Porträt- und Gruppenporträtfotografie in Willingshausen. Auch ihr Interesse gilt der Ambivalenz von Repräsentation und Tatsächlichkeit. Der Philosoph und Fototheoretiker Roland Barthes beschreibt in „Die helle Kammer“ (1980) ein Phänomen, das für jede Betrachtung fotografischer Bilder gilt, und das er als den Unterschied von Studium und Punktum benennt. Studium ist das, was durch die Fotografie überliefert wird und was man recherchieren kann. Punktum ist das, was besticht, was an und betroffen macht, was die Fotografie vom Dokument in den tatsächlichen Moment überführt. Das Punktum erweitert also die technische Sekunde der Belichtung und fordert auf, den festgehaltenen Augenblick in ein gelebtes Davor und Danach zu denken.
Kathi Seemann geht es weder um schöne Landschaften oder repräsentative Gruppenportraits, sondern um die Menschen in ihrer Umgebung, um Gruppendynamik und das Gefühl der Zugehörigkeit. Es geht ihr um Wahrnehmung und Austausch, Diskussion und Vermittlung. Die Fotografie ist dabei eher ein Medium der Inszenierung als eines der Dokumentation.
Text: Bernhard Balkenhol
Bild: Kathi Seemann